„Wir weisen auch jetzt niemanden ab“

Minderjährige Flüchtlinge in Marokko

Lernen im Zentrum: Ehrenamtlich Mitarbeitende bieten für die Jugendlichen Sprach- und Alphabetisierungskurse an – auch in Corona-Zeiten.

Als sich andeutete, dass das Coronavirus weltweit eine Pandemie auslösen würde, setzten sich die Verantwortlichen im Zentrum „Vivre l’Espoir“ (auf Deutsch: „Es lebe die Hoffnung“) in Oudja zusammen. Die ersten Hilfsorganisationen in Marokko hatten bereits entschieden, die Aufnahme neuer Flüchtlinge zu stoppen. Leiter Azarias Zacarias Lumbela und das Team der Unterkunft für minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge entschieden damals aber: „Wir weisen niemanden ab“, sagt Hans-Joachim Schwabe, der für den Kirchenkreis Jülich das Projekt an der marokkanisch-algerischen Grenze begleitet. Kein Flüchtling auf der Suche nach Hilfe sollte im „Vivre l’Espoir“ vor verschlossenen Türen stehen.

Gefahr durch Menschenhändler

Das ökumenische Zentrum auf dem Gelände der katholischen Kirche St. Louis bietet seit 2017 Platz für Jugendliche, deren Flucht meist in der Sub-Sahara-Region beginnt und auf dem Weg Richtung Europa schließlich Marokko erreicht. An der Grenze zwischen Algerien und Marokko hätten sich in den vergangenen Jahren mafiöse Strukturen entwickelt, erzählt Schwabe. Kaum haben die jungen Menschen die Grenze übertreten, werden sie von Kriminellen umworben, die mit Menschen handeln und mit Prostitution ihr Geld verdienen. Auf der Suche nach einer Perspektive, nach einem Ort, an dem sie arbeiten und von dem aus sie ihre Familien versorgen könnten, landen viele junge Männer in den Händen der Menschenhändler.

„Wir wollen da sein und sie vor diesen Strukturen schützen“, sagt Schwabe und erinnert an die lange, enge Freundschaft des Kirchenkreises Jülich mit der evangelischen Kirche in Marokko (Église Évangélique au Maroc). Deswegen sei das Zentrum damals mit großer finanzieller Unterstützung aus Deutschland entstanden – unter anderem engagieren sich der Kirchenkreis Jülich, der Rheinische Verband für Kindertagesstätten, die Evangelische Kirche im Rheinland und die Evangelische Kirche in Deutschland für diese Arbeit.

„Wir bieten den Jugendlichen Sicherheit und Ruhe, um sich zu orientieren“, erklärt Schwabe. Diese Ruhe soll ihnen helfen, Entscheidungen zu treffen: Die wenigsten kehren zurück an den Ort, an dem ihre gefährliche Reise begann. Einige suchen weiter den Weg Richtung Europa oder bleiben in Marokko. Und andere nehmen das Angebot des Zentrums an und lassen sich ausbilden – dank einer Kooperation mit der berufsbildenden Schule des Zentrums „Don Bosco“ in Kenitra.

Notaufnahme 24 Stunden am Tag geöffnet

„Jeder bleibt so lange, wie er zur Orientierung braucht“, sagt Schwabe. Der eine dusche nur kurz und putze sich die Zähne, der andere bleibe Monate. Ehrenamtlich Mitarbeitende bieten Sprachkurse und Sporteinheiten an, Alphabetisierungskurse finden statt und Geflüchtete mit Traumata werden betreut. Ursprünglich waren 16 Plätze angedacht.

Dann begann die Corona-Krise. Und plötzlich veränderte sich an der Rue d’acila 6000 die Situation. Eine Ausgangssperre sorgte von einem auf den anderen Tag dafür, dass die jungen Bewohner nicht mehr weiterreisen konnten. Das Gemeindeleben auf dem Gelände stand still. „Und gleichzeitig standen immer mehr Menschen vor der Tür und baten um Einlass“, sagt Schwabe. Die Notaufnahme für Migranten ist seitdem 24 Stunden am Tag geöffnet.

Zwischen März und Mai nahm das Zentrum „Vivre l’Espoir“ 120 Menschen auf – jeder von ihnen wurde zwei Wochen lang unter Quarantäne gestellt. Jeder Zentimeter des Gemeindegeländes wurde genutzt, die Kirche zum Schlafsaal umfunktioniert. Behausungen außerhalb wurden angemietet. Von Mitte März bis zum 10. Juni zählte das Team 3130 Übernachtungen mit Verpflegung. Dazu halten die ehrenamtlich Mitarbeitenden das Bildungs- und Freizeitangebot am Leben.

Nahrungspakete und Schlafplätze

Gleichzeitig wenden sich Geflüchtete in existenzieller Not an das Team im Zentrum. Weil nach wie vor die Ausgangssperre gilt, können sie ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen. Tagelöhner, Bettler und Prostituierte bekommen kein Geld mehr, mit dem sie sonst ihren Alltag in großer Armut finanzieren. Sie verlieren ihre Schlafplätze, können Kinder und Familien nicht mehr ernähren. Also packt das Team des „Vivre l’Espoir“ Nahrungspakete und bezahlt Schlafplätze.

„Die finanzielle Herausforderung können wir nur durch viele Spenden aus Marokko und Europa überhaupt bewältigen“, schreibt das Team in Oudja in einem aktuellen Bericht. Auch Hans-Joachim Schwabe warb im Frühsommer im Kirchenkreis Jülich um zusätzliche Spenden. Insgesamt 27.000 Euro für die Arbeit des Zentrums schickte der Kirchenkreis schließlich auf den Weg, weitere Gelder für weitere Flüchtlingsprojekte der Partnerkirche Église Évangélique au Maroc. Die Ausgangssperre dauere immer noch an, sagt Schwabe und blickt mit Sorge nach Oudja.

An Resignation allerdings hat Hans-Joachim Schwabe in all der Zeit nie gedacht – ganz im Gegenteil. „Ich empfinde diesen Einsatz als meine christliche Verantwortung“, sagt er. Europa und Deutschland seien dafür mitverantwortlich, was an den europäischen Außengrenzen geschehe. „Das sind Menschen mit einem Recht auf Teilhabe“, sagt er. Und am Ende gelte sein Einsatz auch sich, seiner Tochter und nachfolgenden Generationen: „Wollen wir in einer Gesellschaft leben, der es reicht, wenn Menschenrechte für uns selber gelten?“, fragt er. Dann zerstöre Europa sein demokratisches System – auf dem Rücken der Flüchtlinge.

  • 10.8.2020
  • EKiR.de
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