Abschiebungen transparent machen

Jahresbericht Abschiebungsbeobachtung

Dalia Höhne (links) und Elena Vorlaender sind Abschiebebeobachterinnen in Nordrhein-Westfalen..

Jahresberichte sind in der Regel trocken. Abfolgen von Daten, Fakten und Analysen – es geht darum, Bilanz zu ziehen. Auch der Jahresbericht der Abschiebungsbeobachtung ist zahlenlastig: 4.460 Menschen wurden über Flughäfen in Nordrhein-Westfalen abgeschoben. Hinter diesen Zahlen im Jahresbericht stecken vielfältige menschliche Schicksale. Manche davon lassen beim Lesen innehalten und sind schwer zu ertragen: Auf problematische Abschiebungen, bei denen humanitäre Grundsätze nicht ausreichend beachtet wurden, soll der Bericht aufmerksam machen.

„Jede Abschiebung ist eine Zwangsmaßnahme“, betont Dalia Höhne, die seit 2012 als Abschiebungsbeobachterin arbeitet. „Unser Job ist es nicht, die Abschiebungen zu verhindern, sondern genau hinzuschauen. Jeder und jede Betroffene reagiert anders. Von relativer Zurückhaltung bis völliger Verzweiflung ist alles dabei.“

Sie und ihre Kollegin Elena Vorlaender haben im vergangenen Jahr rund 1.000 Einzel- und Familienabschiebungen beobachtet. Auf 84 haben sie das „Forum Flughäfen in Nordrhein-Westfalen“ aufmerksam gemacht. Zu dem Forum, das sich einmal im Quartal trifft, um problematische Abschiebungen kritisch zu diskutieren, gehören neben der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe auch die evangelische und katholische Kirche, weitere Nicht-Regierungsorganisationen wie Amnesty International und Pro Asyl, das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen sowie das NRW-Flüchtlingsministerium, die Bundespolizei und die Zentralen Ausländerbehörden.

Mehr problematische Abschiebungen seit 2014

Im Vergleich zum Vorjahr habe sich die Lage am Düsseldorfer Flughafen kaum verändert, berichtet Elena Vorlaender. Zwar legte die Abschiebungsbeobachtung dem Flughafenforum 2019 fünf Fälle weniger vor als noch im Vorjahr, doch viele der Problemfelder seien die gleichen geblieben. Durch die Neuregelung des Asyl- und Aufenthaltsrechts komme es seit 2014 vor allem bei der Abholung der abgelehnten Asylbewerber und der Vorbereitung der Abschiebungen zu Konflikten.

Weil Abschiebungen seit Oktober 2015 nicht mehr angekündigt werden dürfen, überraschen die Polizeibeamtinnen und -beamten und die Vertreterinnen und Vertreter der Ausländerbehörden die abgelehnten Asylbewerberinnen und -bewerber in ihrem Alltag. Dadurch entsteht Stress und es bleibt oft nur wenig Zeit zum Packen. „Wir sind nicht dabei, wenn die Betroffenen abgeholt werden. Wenn ein Asylsuchender oder eine Asylsuchende einen rauen Umgang durch die Behörden erlebt, können wir das an das Forum herantragen, überprüfen können wir es nicht“, sagt Vorlaender. Die beiden Abschiebungsbeobachterinnen wünschen sich deshalb, dass der Beobachtungszeitraum ausgeweitet wird und sie auch bei der Abholung und Zuführung zum Flughafen dabei sein können.

Umgang mit kranken Menschen

In 34 der 84 vorgelegten Fälle kam es bei der Abschiebung zu Schwierigkeiten aufgrund von gesundheitlichen Beschwerden. Fünf Rückführungen mussten aus gesundheitlichen Gründen abgebrochen werden. Was immer wieder auffällt, so betont Elena Vorlaender, ist, dass Medikamente fehlen. „Die Menschen werden dann nervös und aufgeregt, wenn sie merken, dass sie lebensnotwendige Medikamente nicht dabeihaben“. Die Ausländerbehörden sollen je nach Ermessen Medikamente für die erste Zeit nach der Abschiebung mitgeben. Nicht immer klappt das.

„In vielen Ländern ist es fast unmöglich, an bestimmte Medikamente zu kommen. In anderen Zielländern, wie zum Beispiel in Georgien, dürfen viele der deutschen Medikamente erst gar nicht ins Land gebracht werden“, sagt Vorlaender. Das lasse viele der abgelehnten Asylbewerberinnen und -bewerber zusätzlich verzweifeln. „Es ist problematisch, Menschen mit angeschlagener Gesundheit und gefährlichen chronischen Erkrankungen in Staaten mit mangelhafter Gesundheitsversorgung abzuschieben“, kommentiert Susanna Thiel. Sie ist für die Fachbegleitung der Abschiebungsbeobachtung zuständig.

Manchmal fehlt die Sensibilität

Die seit 2014 verschärften Regelungen machen vor allem Menschen mit psychischen Erkrankungen zu schaffen. „Wir haben den Eindruck, dass 2019 häufig psychisch kranke oder sogar suizidgefährdete Menschen zum Flughafen gebracht wurden“, erläutert Dalia Höhne. In sechs Fällen wurden Menschen entweder direkt aus stationären Einrichtungen oder kurz nach ihrer Entlassung abgeschoben. Zwei der Betroffenen wurden aus einer psychiatrischen Klinik abgeholt.

In einem Fall wurde aus einer geschützten Psychiatrie heraus abgeschoben. Dabei sind psychiatrische Kliniken eigentlich Schutzräume. Dringen dort uniformierte Beamte ein, könne das zu einer psychischen Destabilisierung führen, kritisieren Expertinnen und Experten. „Wir fragen uns bei solchen Fällen, wie das für die Betroffenen ist, und was es mit den Mitpatientinnen und -patienten macht, wenn jemand plötzlich – oft auch mit Nachdruck – abgeholt wird“, sagt Höhne.

In einigen Fällen fehle es den Beamten an der nötigen Sensibilität. So kommentierte ein Polizist, der nicht aus NRW kam, Helm und Fesseln, die ein Mann zu seinem eigenen Schutz tragen musste, mit den Worten: „Oh cool! Was ist das denn? Hannibal Lektor, oder was?“ Kurz zuvor hatte der Mann versucht, sich bei seiner Abholung die Pulsadern aufzuschneiden. Die Schnitte mussten mit 40 Stichen genäht werden.

Kinder leiden besonders unter der Abschiebung

Für Kinder sind Abschiebungen oft besonders belastend. Sie erleben, wie die Behörden – wenn nötig – Gewalt anwenden. Der Anblick von bewaffneten Polizistinnen und Polizisten kann für Minderjährige, die aus einem Bürgerkriegsland kommen, verstörend sein und retraumatisierend wirken. Im Februar 2019 sprachen einige Kinder Elena Vorlaender auf die Waffen an. Die Abschiebungsbeobachterin erzählt: „Sie sagten: Schau, mit den Waffen können sie Menschen totmachen.“

Im Wartebereich gibt es mittlerweile eine Spielecke für die Kinder. Doch noch immer gibt es keine Sichtschutze, mit denen verurteilte Straftäter und Familien getrennt voneinander auf den Abflug warten könnten. „Die Kinder sind oft ganz nah dran, wenn es zu Auseinandersetzungen kommt“, beobachtet Dalia Höhne.
Schutz bietet die Familie. Doch nicht immer werden Familien gemeinsam abgeschoben. Nicht immer treffen die Behörden alle Familienmitglieder an. In einem Fall wurde ein Vater mit seinen Kindern abgeschoben, während die Mutter nach einem Selbstmordversuch im Krankenhaus lag.

Ausblick auf den nächsten Jahresbericht

„In diesem Jahr haben sich die Felder Gesundheit und Kindeswohl deutlich abgezeichnet“, sagt Elena Vorlaender. Im kommenden Jahresbericht für 2020 wird voraussichtlich der Umgang mit Covid-19 hinzukommen. Trotz Pandemie laufen die Abschiebungen am Flughafen Düsseldorf weiter. Die abgelehnten Asylbewerberinnen und -bewerber tragen einen Mund-Nasen-Schutz und werden angehalten, Abstand zu halten. Nach den Beobachtungen der beiden Abschiebungsbeobachterinnen ist das aber nicht immer möglich. Wer Symptome zeigt, ist nicht flugfähig und wird erst einmal nicht zurückgeführt. Doch nicht jede mit Covid-19 infizierte Person zeigt Symptome. Außerdem gibt es keine bundesweite Vorschrift, auf das Virus vor Abflug zu testen.

„Ich halte das für sehr gefährlich. Werden Menschen, die mit dem Covid-19-Virus infiziert sind, in Länder mit desolaten Gesundheitssystemen abgeschoben, kann sich die Erkrankung dort schnell ausbreiten“, betont Susanna Thiel. Viele der Abgeschobenen hätten keine Möglichkeit, sich nach Ankunft in Quarantäne zu begeben. Stattdessen kommen sie bei Verwandten und Bekannten unter, vorausgesetzt sie verfügen noch über entsprechende Netzwerke.

„Deshalb ist es wichtig, dass wir unsere Verantwortung ernst nehmen. Wenn wir Reisewarnungen aussprechen, müssen wir diese auch für die von Abschiebung Bedrohten ernst nehmen“, betont die Flüchtlingsexpertin. Es läge auch in unserer Verantwortung, dass sich das Virus nicht weiter in anderen Ländern ausbreite.

Abschiebungen 2019

Aus Deutschland wurden im vergangenen Jahr 22.097 Menschen abgeschoben; 6.359 dieser Abschiebungen wurden durch das Bundesland Nordrhein-Westfalen veranlasst. Über die nordrhein-westfälischen Flughäfen wurden 4.450 Menschen zurückgeführt. Das sind 830 weniger als noch im Vorjahr. Dennoch sei der Druck abzuschieben, weiterhin hoch. Die Asylgesetze hätten sich in den vergangenen Jahren insgesamt verschärft, betont Susanna Thiel. Dass die Zahlen rückläufig seien, habe mit den Ländern zu tun, in die abgeschoben wurde. 2019 waren in der Zuständigkeit Nordrhein-Westfalens viele Menschen ausreisepflichtig, die aus weit entfernten Staaten wie dem Irak, Afghanistan, Guinea, Nigeria und dem Libanon stammen. Der Personal- und Organisationsaufwand sei in diesen Ländern deutlich höher und die Sammelabschiebungen verzögerten sich dadurch oftmals.

  • 12.8.2020
  • EKiR.de
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