Gemeinsam für mehr Menschlichkeit

Seenotrettung

Die Sea-Watch 4 wird demnächst für Rettungsaktionen im Mittelmeer auslaufen.

Herr Schwickart, seit mehreren Wochen liegt die Sea-Watch 4 in der spanischen Hafenstadt Burriana. Die Umbauarbeiten haben sich durch die Corona-Pandemie verzögert. Bald soll das Rettungsschiff nun in See stechen. Wie ist die Stimmung der Crew?

Michael Schwickart: Nach 14-tägiger Quarantäne, die sicherstellen sollte, dass sich niemand im Team mit dem Corona-Virus infiziert hat, ist die Crew jetzt an Bord. Für sie ist die erste Fahrt auf der Sea-Watch 4 etwas ganz Besonderes. Das Schiff ist nochmal deutlich größer als die Sea-Watch 3, und es können mehr Menschen an Bord genommen und in der Krankenstation professionell behandelt werden.

Das Schiff ist aber auch so außergewöhnlich, weil es erst mit Hilfe eines breiten gesellschaftlichen Engagements ersteigert werden konnte. Mittlerweile werden wir von 550 Bündnispartnern aus allen Teilen der Gesellschaft unterstützt. Das ist eine ganz neue Dimension in der zivilen Seenotrettung.

Auf dem Bündnisschiff wird auch zum ersten Mal Ärzte ohne Grenzen dabei sein, die bis vor kurzem noch die Ocean Viking der Organisation SOS Mediterranee unterstützt haben.

Schwickart: Wir freuen uns sehr über diese Kooperation. Erstmals werden sechs Mitglieder der Organisation mit an Bord sein. Das ist wichtig, denn viele der Geretteten weisen Spuren von Folter auf, gebrochene Knochen und Brand- oder Schusswunden. Viele Frauen berichten von Vergewaltigungen auf der Flucht und in den libyschen Lagern. Andere sind dehydriert oder weisen Verätzungen durch das toxische Benzin-Salzwassergemisch in den Booten auf. Durch die Kooperation mit Ärzte ohne Grenzen hat Sea-Watch jetzt auch auf dem zweiten Schiff professionelle Verstärkung, und die Menschen können schnell und kompetent behandelt werden. Die Sea-Watch 4 wird dadurch immer mehr zum Bündnisschiff, und das macht uns sehr stolz.

Für das ehemalige Forschungsschiff ist es der erste Einsatz in der Seenotrettung. Sie selbst sind im Sommer 2016 bei einer Mission der Sea-Watch dabei gewesen. Wie läuft solch ein Einsatz ab?

Schwickart: Die Vorbereitung ist entscheidend. Wir stellen sicher, dass wir genügend Schwimmwesten, Verpflegung, Wasser und andere notwendige Ausrüstung an Bord haben. Dann üben wir die Einsätze immer wieder, und auch mental stellen wir uns auf die Mission ein. Als es dann losging, stand ich stundenlang im Ausguck und habe Ausschau gehalten nach Booten in Seenot. Das ist ziemlich anstrengend, denn die Schlauchboote, mit denen die Menschen losfahren, sind lange graue Gummiboote. Schon nach kurzer Zeit sieht jede Schaumkrone einer Welle aus wie ein Schlauchboot. Ich hatte große Angst, etwas zu übersehen, denn wenn wir ein Boot nicht wahrnehmen, kann das zum Todesurteil für hunderte Menschen werden.

Wann haben Sie die ersten Schlauchboote gesehen?

Schwickart: Am zweiten oder dritten Tag haben wir ein Boot gesehen. Wir haben dann unsere Schlauchboote ausgesetzt und sind langsam zu den Menschen hingefahren. Wir haben acht Stunden bei den Menschen verbracht, Wasser ausgeteilt und uns mit ihnen unterhalten. 20 Leute, die krank waren, haben wir auf unser Schiff zur medizinischen Versorgung gebracht. Die anderen Menschen durften wir zu einem irischen Kriegsschiff bringen. Das hat gut geklappt. Die Flüchtlinge sind oft schwer traumatisiert. Und wenn die vermummte Besatzung eines Kriegsschiffs sie abholen kommt, geraten viele in Panik.

Vor kurzem wurde die Sea-Watch 3 in Italien von den dortigen Behörden festgesetzt. Warum?

Schwickart: Schon seit Jahren wird die zivile Seenotrettung systematisch von Italien und Malta behindert. Gerade die jetzige Festsetzung der Rettungsschiffe entbehrt jeder rechtlichen Grundlage und ist reine Schikane. Neben der Sea-Watch 3 sind auch die Alan Kurdi von Sea-Eye und die Ocean Viking von SOS Mediterranee davon betroffen.

Aber auch deutsche Politiker versuchen, die private Seenotrettung zu behindern. Das Verkehrsministerium ließ kürzlich die Verordnung zur Schiffssicherheit verschärfen. Die neue Rechtslage verlangt Veränderungen hinsichtlich der Bauweise, Ausrüstung, Besatzung und Qualifikation des Kapitäns. Kleine Schiffe können dadurch momentan nicht mehr auslaufen. Es ist zermürbend, immer wieder gegen solche Entscheidungen vorgehen zu müssen.

Was wünschen Sie sich für die zivile Seenotrettung?

Schwickart: Dass sie überflüssig wird. Bis dahin brauchen wir endlich verbindliche Verteilmechanismen für die Geflüchteten in Europa. Die Zusammenarbeit der EU mit der libyschen Küstenwache muss sofort beendet werden. Diese Kooperation ist erbärmlich und widerspricht den europäischen Werten.

Es kann auch nicht sein, dass Schiffe mit Geretteten wochenlang vor Häfen ausharren müssen, weil niemand sie aufnehmen will. Wir sprechen hier von wenigen tausend Menschen im Jahr, die durch private Seenotretter gerettet werden. Diese Menschen festzusetzen, löst nicht die Flüchtlingsfrage. Die muss an anderer Stelle geklärt werden.

Zur Person

Michael Schwickart ist Unternehmer in der Baubranche. Der 60-Jährige hat vor fünf Jahren sein Ehrenamt bei Sea-Watch begonnen. 2019 gründete er das Bündnis United4Rescue mit. Aktuell engagiert er sich für United4Rescue als stellvertretender Vorsitzender und ist auch im Verein Sea-Watch aktiv.

  • 6.8.2020
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